Stills: Norman Richter, Heidelberg

 

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Bilka - Texte - Miesmuschel

 

____[first person] filme
3., 10. & 17. Dezember 2008 im Kino Arsenal jeweils 17h
Seit den 90er Jahren boomt der subjektiv erzählte Dokumentarfilm mit experimentellen Autobiografien, Tagebuchfilmen, Selbstporträts und (interkulturellen) Familienerzählungen. FernsehredakteurInnen fordern gelegentlich schon mal den "Me-Faktor" ein.
Die öffentlichen Vorführungen im Arsenal ergänzen ein gleichnamiges Seminar an der UdK von Madeleine Bernstorff, in dem es um Ich-Konstruktionen und auto-ethnografische Strategien sowie um Fragen von Erinnerung, Alterität, Selbstverwertung und corpo-reality geht. Die [first person]-Filme verfolgen Wagnis und Anmaßung der Selbstdarstellung über Selbst-Portraits, Tagebuchfilme, family found footage, Daily Close-ups, Dirty Stories und Borderliners, und stellen die Frage, unter welchen Umständen und Abbildungsverhältnissen ein Subjekt überhaupt Subjekt sein kann.

Die Filme (die meisten davon auf 16mm) stammen aus dem Archiv und Verleih des Arsenals, sowie der Kurzfilmtage Oberhausen, der Stiftung Deutsche Kinemathek, dem Bundesarchiv/Filmarchiv, der HFF-Babelsberg und privaten Quellen. Zu den Programmen gibt es jeweils eine kurze Einführung.

____filmeprogramm

_______Mi 3.12., 17h zu Gast: Norman Richter

FUNKTIONELL-MOTORISCHE REIZ- UND LÄHMUNGSZUSTÄNDE BEI KRIEGSTEILNEHMERN UND DEREN HEILUNG DURCH SUGGESTION IN HYPNOSE Leonaris-Film/Dr. Munck D ca. 1919

KASSEL 9.12.67 11.54 Adolf Winkelmann BRD 1967

TEMPI PASSATI Boris Schafgans BRD 1985

STANDARD GAUGE Morgan Fisher USA 1984

HEIDELBERG Norman Richter D 2008

Das Filmprogramm beginnt mit einer Medizinvorführung: FUNKTIONELL-MOTORISCHE REIZ-UND LÄHMUNGSZUSTÄNDE BEI KRIEGSTEILNEHMERN UND DEREN HEILUNG DURCH SUGGESTION IN HYPNOSE (1919). Film ist hier eine Maschine der Sichtbarmachung und Beherrschung von Subjektivitäten, die Hypnose ein Kontroll-Spektakel. KASSEL 9.12.67 11.54H (Adolf Winkelmann) wiederum ist das seltene Beispiel eines Films, in dem der Filmemacher die Kamera kontrolliert und gleichzeitig sichtbar ist. In TEMPI PASSATI (Boris Schafgans, 1985) nimmt der Filmemacher Reißaus zu sich selbst: "Wie schrecklich wie schrecklich: einst glaubte ich, einen Film drehen zu müssen, aber mittlerweile sind mir meine geliebten Hauptdarsteller unter der Hand weggestorben." STANDARD GAUGE (Morgan Fisher, 1984) ist "eine Art Autobiografie des Machers, eine Art Geschichte der Institution, aus deren Scherben sie zusammengesetzt ist, der kommerziellen Filmindustrie. 35mm und 16mm erforschen sich gegenseitig, das Format Hollywoods und das Format der Amateure und Unabhängigen". (Morgan Fisher). Norman Richter begibt sich mit HEIDELBERG (2008) in das Haus seiner Großeltern, fragt sich, wie man sich erinnern kann und kommt zu einer kristallin-intuitiven Ordnung der beseelten Dinge in der fragilen Gegenwart seiner Großmutter.

_______Mi 10.12., 17h

THE MARCH A. Ravett USA 1999

NOTEBOOK M. Menken USA 1940-1962

AN AVANT-GARDE HOME MOVIE S. Brakhage USA 1961

DIE URSZENE N. Brinckmann BRD 1981

MIT MIR K. Cmelka D 2000

FUSES C. Schneeman USA 1965

DER SCHMETTERLING IM WINTER M. Lang/U. Aurand D 2006

In THE MARCH befragt Abraham Ravett seine Mutter über einen Zeitraum von dreizehn Jahren immer wieder zu ihrer Erinnerung an den Todesmarsch von Auschwitz im Januar 1945. Der Film besteht aus einem unsystematischen Archiv der Aufnahmen dieser Befragungen - nachbearbeitet an der optischen Bank. Schrifttafeln beziehen sich auf jiddische, polnische und deutsche Worte, welche die Mutter mit dem Todesmarsch verbindet, aber auch auf die Leerstellen, die Momente der Entsubjektivierung nur umschreiben können. Der Film stellt die Anmaßung und die Unabdingbarkeit einer Konfrontation mit traumatischen Erinnerungen zur Disposition genauso wie die Zerbrechlichkeit von Zeugenschaft.
Marie Menkens NOTEBOOK gilt als der erste Tagebuchfilm überhaupt: In seiner leichtfüssigen Vielgestaltigkeit zwischen Naturstudie, Legetrick und light writing hat er den Weg zu einem subjektiveren Filmemachen geebnet, das z.B. Stan Brakhage nicht nur in AN AVANTGARDE HOME-MOVIE weiterverfolgt hat. DIE URSZENE umkreist die Beziehung zwischen Film und Voyeurismus, Phantasmen und verdrängenden Verschiebungen und gibt außerdem "auch einen kurzen Überblick über die stilistische Vielfalt der Schlafzimmer im Frankfurter Raum." (Noll Brinckmann). Kerstin Cmelka hat das 16mm-Material in MIT MIR zweimal belichtet und so geht sie mit sich selbst ins Bett. FUSES von Carolee Schneemann: "The intimacy of the lovemaking: ... I wanted to put into that materiality of film the energies of the body, so that the film itself dissolves and recombines and is transparent and dense-- one feels during lovemaking ... And there's no objectification or fetishization of the woman." DER SCHMETTERLING IM WINTER von Maria Lang und Ute Aurand beginnt mit einem Tagebuchtext, gefolgt von Filmaufnahmen einer zärtlichen Pflege: "Jeden Morgen macht Maria die Fensterläden auf, setzt die Mutter in den Rollstuhl, wäscht sie, cremt sie ein, zieht sie an und kämmt ihr die langen weißen Haare. Das wiederholt sich Tag für Tag und doch ist jeder Tag anders." (Ute Aurand)

_______Mi 17.12., 17h zu Gast: Stefan Hayn

DAS PORTRAIT May Spils BRD 1966

A & B IN ONTARIO Joyce Wieland/ Hollis Frampton CA 1966-84

EIN FILM ÜBER DEN ARBEITER Stefan Hayn D 1997/98

AM SIEL Peter Nestler BRD 1962

RULES OF THE ROAD Su Friedrich USA 1993

PISSEN Stefan Hayn D 1989

Ein Selbstporträt malen oder doch fotografieren? "Schöpferisch sein, das ist das Wesen des Künstlers!" Dieser Imperativ führt bei May Spils zu ironischen Begegnungen mit dem eigenen Damenbild: DAS PORTRAIT entsteht. In A&B IN ONTARIO filmen sich Joyce Wieland und Hollis Frampton gegenseitig mit der Bolex, verfolgen und umpirschen sich.
In EIN FILM ÜBER DEN ARBEITER spricht Stefan Hayn einen Text über Arbeits-, Sexualitäts- und Filmschul-Verhältnisse. Der Film zeigt Hayns winziges Zimmer in einem Wohnheim und Zeichnungen. Das sprechende, alte Siel weiß nicht sicher, ob das Dorf, an dem es liegt, überhaupt gefilmt werden will. So geht es also in Peter Nestlers AM SIEL um das Besitzergreifende des Filmens und um ein "unmögliches Ich" (H. Bitomsky). In FUSES ist ein gebrauchter Kombi mit Holzimitat-Verkleidung das Primär-Objekt einer Beziehung. Daran entlang erzählt Su Friedrich das Auf und Ab sowie den Nachspuk einer Liebesgeschichte und die ganze Wucht, mit der die Dinge eine Aufladung erfahren können. Und zu guter Letzt noch eine Geschichte über das Aufwachsen in der deutschen Provinz: der erwachsene Filmemacher spielt einen kleinen Jungen, dessen Lederhose gelegentlich nass wird: PISSEN von Stefan Hayn, gedreht auf Super8.

Texte: Madeleine Bernstorff

Ein UDK-Seminar mit Unterstützung der nebenberuflichen Frauenbeauftragten.

Dank an: Antje Engelmann, Anke Hahn/Stiftung deutsche Kinemathek, Sophie Hamacher, Stefan Hayn, Claudia Heynen/bloccotasti, Birgit Kohler/Arsenal, Christian Pfänder/mackevision, Norman Richter, Boris Schafgans, Christine Sievers/Arsenal, Carsten Spicher/Kurzfilmtage Oberhausen, Marian Stefanowski/Arsenal.

Stills: Joyce Wieland /Hollis Frampton, A & B in Ontari