Madeleine Bernstorff______________

 

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____MEIN LEBEN TEIL 2
von Angelika Levi, D 2003

Aus anderen Ländern kennt man einige herausragende Filme, die sich mit Fragen des Vermächtnisses der Shoah-Erfahrung in der zweiten Generation beschäftigen. Filme wie Tsipi Reibenbachs HABEHIRA VEHAGORAL / WAHL UND SCHICKSAL (Israel 1993), in dem die Tochter den ritualisierten Alltag der überlebenden Eltern beobachtet und die Filmarbeit zum Katalysator für das kathartische Sprechen der Mutter wird, oder Abraham Ravetts THE MARCH (USA 1999), der im jahrzehntelangen Abrufen der Erzählungen vom Todesmarsch, an dem die Mutter teilnahm, die eigene emotionale Beziehung zu diesen Erzählungen genauso wie die Fragilität des Erinnerungsprozesses thematisiert.

Hierzulande wiederum gibt es zwar viele Filme über die Überlebenden, aber bis jetzt wenige Filme, die beschreiben, was es heißt im Nachkriegswestdeutschland in den 60er Jahren aufgewachsen zu sein, in einer Familie, deren Seelenalltag davon geprägt war, damit umzugehen, daß die Erfahrung der Verfolgung, die Trauer über ermordete Familienmitglieder innerfamiliär präsent, gesellschaftlich aber von einer beklommenen Einkapselung umgeben war, einer Einkapselung, die ab und an hysterisch aufplatzte.
MEIN LEBEN TEIL 2 von Angelika Levi ist nun so ein Film. Die Filmemacherin ist in den 60er Jahren geboren, Tochter einer jüdischen Mutter, die während der Nazizeit in Hamburg überlebte und eines protestantischen Vaters. Sie hat von ihrer Mutter ein großes Archiv geerbt und führt uns nun mit ihrem Film durch dieses Archiv. Erinnerungsträger sind Audiokassetten von BASF C60 aus den 70er Jahren, 16 mm Film, Super8-Film, digitales Video, S-VHS-Video, Fotografien, Schriftstücke, ein Becher, ein Sieb, Tagebücher, Wäschestücke, gepreßte Pflanzen. Zeichen, die an den Übergängen vom Materiellen zum Immateriellen in die Geschichte ragen. Im Gespräch mit dem angesammelten, ausgewählten und präzise geordneten Material kommentiert sie dieses, ohne der Spannung zwischen dem Ungesagten und dem Sagbaren auszuweichen. Ein laid-back Erzählduktus, der den geronnenen Schmerzen überhaupt nicht unangemessen ist. Kein voice-over, eher ein voice-nearby. "Ich frage mich oft, wo bleibt die Wut, die Angst, die Verzweiflung der gewaltsam Ermordeten,"sagt sie.

Die Familienerzählung: Ein Vorfahre Leon Levi war Stadtschreiber in Neustadt in der Pfalz. Zum 25-jährigen Amtsjubiläum 1871 wird ihm ein silberner Becher verliehen. Aus diesem Becher wollte die Urgroßmutter angesichts der drohenden Deportation durch die Nazis ihren Selbstmordtrank zu sich nehmen. Die Enkelin und Mutter der Filmemacherin, ein junges Mädchen damals, hoffte, sie davon abzuhalten, indem sie ihr den Becher nicht mitbrachte. Sie trank das Gift trotzdem. Der Großvater emigrierte 1938 nach Chile, die nichtjüdische Großmutter der Filmemacherin überlebte mit ihren zwei Kindern in Hamburg. Nach dem Krieg wanderten sie nach Chile aus. Dort wurde die Mutter eine anerkannte Biologin, die über die Anpassungsfähigkeit von Pflanzen an die jeweilige Umwelt forschte. 1957 ging die Mutter zurück nach Deutschland und verliebte sich dort in einen evangelischen Theologen.
Die Ehe der Mutter mit dem Pfarrer wurde von der Kirche als eine "Art Versöhnung" gesehen, so beschreibt es der Vater. Anfang der 70er Jahre wird die Mutter schwer krank. Krebs. Der Vater zeichnet Kinderspiele am Strand mit der Super8-Kamera auf. Die Mutter schreibt im Krankenhaus mit einer von Kraftlosigkeit gezeichneten Schrift fast stündlich systematische Protokolle ihrer Körperempfindungen. Die Filmemacherin montiert dazu wie ein rhythmisches Kompendium gepreßte und mit zarten Papierstreifen aufgeklebte chilenische Pflanzen aus dem Herbarium ihrer Mutter.

Der Film ist eine Schachtel in der Schachtel. Außen siedelt sich die Geschichte der Familie, die Erzählung über das Leben der Mutter an. Schon bald zeigt sich, daß die Überlieferungen der Mutter durch die Filmemacherin so angeordnet werden, daß anhand dieses Archivs die Frage gestellt wird, wo es nötig war zu verdrängen und zu verschieben. Und wo etwas richtig gestellt werden muß: die Empfindlichkeit der Großmutter, Mutter und Tochter gegen "deutsche Zustände", gegen die Definitionsmacht der Täter-, Mitläufergeneration und deren Nachkommen, denen das Privileg vergönnt scheint, nicht über die Vergangenheit der eigenen Familie nachdenken zu müssen. Eine Empfindlichkeit, die von der Mehrheitsgesellschaft pathologisiert wird. "Ich glaube, es ist eine ziemliche Arbeit, sich dem Täter-Opfer-Schema zu verweigern. ... Ich glaube, ich wollte mich früher viel mehr mit der jüdischen Seite identifizieren und die Widersprüche weglassen. Durch die Arbeit an dem Film habe ich angefangen, das viel genauer zu sehen. Man kann in der Generation, in der ich aufgewachsen bin, nicht einfach von Tätern oder Opfern sprechen kann, aber trotzdem wird natürlich das Jüdischsein mit der Opferposition gleichgestellt und dieses Konzept wollte ich einfach nicht," sagt die Filmemacherin.

Das laute Sprechen der Öffentlichkeit dokumentiert der Film in kleinen wohlgewählten Partikeln. Da ist eine Fernseh-Diskussion mit Margarete Mitscherlich anläßlich der deutschen Ausstrahlung der amerikanischen Serie ‚Holocaust' zu sehen. Die Psychoanalytikerin merkt an: "Die Deutschen meinen, einfach durch Vergessen könnte ihr stark beeinträchtigtes Selbstwertgefühl wiederhergestellt werden." Zwanzig Jahre später dann die Paulskirchenrede des Schriftstellers Walser im literarisch ambitionierten Konjuktiv: "Ich käme ohne Wegschauen und Wegdenken nicht durch den Tag und schon gar nicht durch die Nacht." Und schließlich stellt der Quoten-Historiker Guido Knopp bei einer TV-Umfrage eine knappe Mehrheit von 50% (gegenüber 44%) für den "vielzitierten Schlußstrich"fest.

Die Gegenwart: die Schießbude auf einer pfälzischen Kirmes. Die Besucher werden dazu animiert, mit Bällen auf die stereotyp modellierten Dunkelhäutigen und Hakennasigen zu werfen. Jeder Gegenstand trägt eine Geschichte. Jeder Gegenstand kann dazu auserkoren werden, eine Geschichte zu tragen. Jeder Gegenstand.

Madeleine Bernstorff